Ein gigantisches Album: Coldplay – Mylo Xyloto


Es ist ja durchaus nachvollziehbar: Als Kritiker darf man dieses Album nicht mögen. Wozu den Musikhörern da draußen ein Album empfehlen, dass sie sich ohnehin kaufen werden? Das führt die Aufgabe des Kritikers ad absurdum. Deshalb wird nun seit Erscheinen von Coldplays fünftem Studioalbum in Musikredaktionen rund um die Welt der warnende Zeigefinger gehoben und „Ausverkauf“ gemurmelt, manch einer spricht stirnrunzelnd von „überproduziert“ und mit vielsagendem Blick von „Brian Eno“. Und die boshaftesten unter ihnen versetzen Coldplay den Dolchstoß und raunen naserümpfend das Wort, das jeden Zweifel über die Qualität eines Albums zu Gewissheit werden lässt: „POP“.

Dass sich dennoch keine Musikredaktion findet, die das Album komplett verreißen möchte, liegt schlicht daran, dass die Veröffentlichung des fünften Studioalbums von Coldplay das musikalische Großereignis des Jahres ist und dass die eindeutige Gefahr besteht, dass Mylo Xyloto als Klassiker in die Musikgeschichte eingehen wird. Und da will natürlich niemand nachträglich als der Vollpfosten dastehen, der die Größe des Werks verkannt hat. Denn genau das kann diesem Album kein Kritiker der Welt absprechen: Größe.

Auf Mylo Xyloto werden kleine Dinge groß. Jeder Ton ist eine Sinfonie, jede Träne ist ein Wasserfall und die ganze Welt ist ein riesengroßes Graffito. So ungefähr lautet die Botschaft des Albums. Dass dem ganzen ein Konzept zugrunde liegt, dass die elf Lieder die zusammenhängende Liebesgeschichte von Mylo und Xyloto erzählen, ist eine nette Idee, fällt aber nicht weiter auf. Im Vordergrund stehen – und das ist wesentlich – die Songs. Bereits im Intro und dem nahtlos ansetzenden, sogwirkendem „Hurts Like Heaven“ wird klar, dass hier klanglich nichts dem Zufall überlassen wird. Jedes Gitarrenriff scheppert wie ein Gewitter, die Synthesizer-Flächen stapeln sich meterhoch und die überaschend im Hintergrund gehaltene Stimme Chris Martins klingt hell und in den richtigen Momenten kratzig wie eh und je. Doch dies ist nicht der Versuch, kleine unbedeutende Songs durch Überproduktion aufzupolieren, sondern das sind große, liebevoll und genial komponierte Songs, mit angemessenem Aufwand produziert. Die kurz vor dem Album erschienene zweite Single „Paradise“ mit dem echoartigen Refrain und dem niedlichen Elefantenvideo (siehe unten!) sowie das treibende, an „Clocks“ erinnernde „Charlie Brown“ sind weitere Beispiele dafür. Wie anders soll man derart große Lieder produzieren?


Coldplay — Paradise – MyVideo

Mit „Us Against the World“ wird für einen Moment das Tempo aus dem Album genommen, bevor ein weiterer Höhepunkt des Albums folgt. Bereits mit Erscheinen der Vorab-Single „Every Teardrop is a Waterfall“ im Frühsommer war jedem klar, dass Coldplay sich ihrer Rolle als die größte Band des Jahrzehnts nicht verweigern. Nein, sie nehmen diese Rolle in Gegenteil mit Lebensfreude an. Der Song ist perfekt produziert, radiotauglich und sogar tanzbar (für Coldplay durchaus nicht selbstverständlich) und ist jetzt schon einer der größten Hits dieses Jahres. Umso erstaunlicher ist dabei die Tatsache, dass sich das Lied konventionellen Songstrukturen aus Strophe und Refrain eigentlich verweigert. Genau so entstehen Songs, die trotz hoher Radiopräsenz auch nach Jahren ihre Strahlkraft nicht verlieren. Auch „Major Minus“ und „Don’t Let it Break Your Heart“ fallen in diese Kategorie und sind weitere Höhepunkte des Albums.


Coldplay — Every Teardrop Is A Waterfall – MyVideo

Bei aller Liebe und allem Staunen über dieses Meisterwerk darf nicht unerwähnt bleiben, dass dem Album gegen Ende ein wenig die Puste ausgeht. „Up in Flames“ ist eine ziemlich lahme Nummer und das viel diskutierte Duett mit Rihanna (die der Rezensent im Widerspruch zu Chris Martin eher als Heulboje denn als begnadete Sängerin bezeichnen würde) „Princess of China“ hinterlässt eigentlich überhaupt keinen Eindruck, was sich auch nach zweihundertmaligem Hören im Radio zu Weihnachten nicht ändern wird. Zu dem abschließenden „Up with the Birds“ lässt sich nur feststellen, dass Coldplay mit „Everything’s not Lost“ und „Death and All His Friends“ frühere Alben schon weitaus besser beendet haben.

Doch das ist Jammern auf hohem Niveau, denn unterm Strich bleibt ein Album, dass in vieler Hinsicht als gigantisch zu bezeichnen ist und das seinen Platz in der Musikgeschichte finden wird. Penetrante Fragen zu Vergleichen mit U2 ignorieren Coldplay in Interviews dann auch zu recht mit professioneller Kollegialität. Interessant hingegen wäre ihre Meinung zu dem rosa Schweinchen, welches durch die Plattenrezension auf spiegel-online fliegt und damit auf Pink Floyds Meilensteine der 70er Jahre anspielt, in denen der Gigantismus geradezu zelebriert wurde (wofür die Musiker von den Kritikern damals übrigens schwer gescholten wurden). Bei diesem Vergleich sollte ihnen doch zumindest ein stolzes Lächeln über das Gesicht huschen.

(9 Punkte)

Diskografie von Coldplay:
1999 – The Blue Room EP
2000 – Parachutes
2002 – A Rush of Blood to the Head
2003 – Live 2003
2005 – X&Y
2008 – Viva la Vida
2008 – Prospekt’s March EP
2009 – LeftRightLeftRightLeft
2011 – Mylo Xyloto

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