Eine Frage vorne weg: Wo wäre dieses Jahrzehnt bisher ohne Coldplay? Natürlich gab es auch andere herausragende Bands von den Strokes bis hin zu Sigur Rós, aber eine musikalische Massenbewegung im erfreulichen Sinne haben in diesem Jahrtausend bisher nur Coldplay ausgelöst. Aus diesem Grund sollte dieser großartigen Band immer erst mal Respekt gezollt werden, bevor man sich daran macht, ihr neues Album Viva la Vida… zu zerreißen.
Nein, keine Sorge, hier wird nicht eingestimmt in den Chor der Rezensenten, die beim ersten Hall-Effekt gleich „Ausverkauf“ oder „überproduziert“ schreien. Im Gegenteil soll hier festgestellt werden, dass Coldplay mit ihrem viertem Album frei von jeder Arroganz klar stellen, dass ihnen kompositorisch kaum eine andere Band zur Zeit das Wasser reichen kann. Ausgefeilteres Songwriting wird man dieses Jahr wohl kaum noch zu hören bekommen, gleich das hymnische „Cemetries of London“ jagt einem einen Schauer über den Rücken, dass man den leicht schalen U2-Nachgeschmack, den der Song hinterlässt, gerne in Kauf nimmt. Besonders da das darauf folgende „Lost!“ sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt. Die erste Single „Violet Hill“ berührt trotz der spröden Produktion schon nach zweimaligem Hören so tief, wie man es nur bei Coldplay erwarten darf. Der zerbrechlich zarte Schlussteil offenbart alles, wozu Musik in der Lage ist.
An dem Titelstück und der zweiten Single „Viva la Vida“ scheiden sich die Geister, unverständlich, warum das Erscheinungsdatum nicht in die Vorweihnachtszeit gelegt wurde. Die üppige Produktion mit Paukenschlägen, Glockenspiel und Chorgesängen mag so gar nicht in den warmen Sommer und seine dramatischen Gewitter passen.
Was jedoch Viva la Vida… zu einer herausragenden Platte macht, sind nicht die darauf enthaltenen Hits. Es ist das berauschende Kernstück des Albums, der wie ein Minialbum im Album angelegte Mittelteil mit den drei mal verschachtelt, mal verkantet ineinander aufgebauten Stücken „42“, „Lovers in Japan / Reign of Love“ und „Yes“. Von der ersten Zeile „those who are dead, are not dead, they’re just living in my head“ über das an Peter Gabriels beste Zeiten erinnernde „Reign of Love“ bis hin zu dem genialen Bruch nach vier Minuten in „Yes“, wird man mehrfach erfasst und herumgewirbelt, um urplötzlich wieder behutsam abgesetzt zu werden. Man lauscht gebannt, um kein Detail der Songs (und übrigens auch der Produktion) zu verpassen. Wer möchte, kann sogar in dem ersten Stück „Life in Technicolor“ und in dem letzten Stück „Death and all his Friends“ den Prolog bzw. Epilog dieser Gesamtkomposition sehen, wunderbar, wie sich am Ende der musikalische Kreis des Albums schließt. Eine solche, dem Art-Rock der Siebziger Jahre huldigende Mini-Rock-Oper in einem Popalbum zu verstecken und an die Spitze der Charts weltweit zu katapultieren, dazu ist derzeit keine andere Band in der Lage. Respekt!
(9 Punkte)
Diskografie von Coldplay:
1999 – The Blue Room EP
2000 – Parachutes
2002 – A Rush of Blood to the Head
2005 – X&Y
2008 – Viva la Vida or Death and all his Friends