Wer sich Ende des vergangenen Jahres durch die unzähligen Jahresabschlusscharts der wichtigsten Musikmagazine wühlte (eine meiner Lieblingsbeschäftigungen zu Weihnachten), der kam an einer Band nicht vorbei: Arcade Fire fanden sich mit ihrem dritten Album The Suburbs so penetrant auf den oberen Plätzen aber auch wirklich jeder Liste wieder, dass einem die Band schon fast unsympathisch werden konnte. Platz 2 im New Musical Express, Platz 4 im Rolling Stone, Platz 3 im musikexpress, Platz 2 bei intro, Platz 1 (in der Kategorie „Indierock“) bei Visions, sebst bei spex ein beachtlicher Platz 11 und schließlich noch Platz 1 bei laut.de. (Man beachte die vorbildliche Angabe von Quellen. Mit sowas sollte man ja immer sehr sorgfältig sein…).
Wer (wie ich) bei den ersten beiden, ähnlich hoch gelobten Alben der Band, einiger guter Songs zum Trotz, immer etwas ratlos und enttäuscht geblieben ist, konnte hier nur eine erneute Verschwörung der Kritiker-Community wittern und das Album mit dem Gedanken „Na, ich kann ja bei Gelegenheit mal reinhören“ abhaken. Doch mit den guten Bewertungen nicht genug, geht es dieses Jahr fröhlich weiter. Letzte Woche gewinnen Arcade Fire den Grammy für das „Album des Jahres“ und diese Woche werden sie schließlich noch mit zwei der angesehenen Brit Awards ausgezeichnet. Und zwar als „Beste Internationale Band“ und für das „Beste Internationale Album“. Kann das sein? Kann ein Album so gut sein, dass es derart flächendeckend mit Preisen überhäuft wird?
SCHEISSE, JA!
Was habe ich mir nur dabei gedacht, dieses Album für ein halbes Jahr einfach zu ignorieren? Was für ein großartiges Jahr hätte 2010 werden können, wenn man sich The Suburbs gleich im August gekauft hätte. Man hätte in jedem unerträglichen Geschäftsmeeting die Zeile „If the businessmen drink my blood…“ (aus dem abartig guten „Ready to Start“) in sich hinein summen und entspannt lächeln können. Wie viele Sonntagnachmittage hätte man auf dem Sofa liegend der vertrackten Melodieführung von „Rococo“ nachspüren können? Und etwas später hätte man bei „Sprawl II“ die Zeile „dead shopping malls rise like montains beyond mountains“ vor dem geistigen Auge Wirklichkeit werden sehen.
Nach wie vor präsentieren sich Arcade Fire als Multiinstrumentalisierer, aber auf The Suburbs haben sie einen homogenen und defininierten Sound entwickelt, der nichts mehr von der zähen Breiigkeit von Funeral oder den Sakralklängen von Neon Bible hat. Und in diesen Sound kleiden sich Songs, die so gut sind, dass man Conor Oberst und Bob Dylan als Songwriter-Kollektiv dahinter vermuten möchte. Neben den beiden bereits genannten „Ready to Start“ und „Rococo“ müssen als Beispiele der entspannte Einstieg „The Suburbs“, das organische „City with no Children“, das fröhlich rockende „Month of May“ und das hypnotisierende „We Used to Wait“ genannt werden. Kann ein Album mit derart vielen guten Songs überhaupt noch Höhepunkte haben?
Es kann.
Absolute Höhepunkte des Albums sind die beiden Doppel-Songs „Half Light I“ / „Half Light II (No Celebration)“ und „Sprawl I (Flatland)“ / „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“, die wohl jeden Musikrezensenten vor das gleiche Problem stellen: Was soll man zu solchen Schöpfungen noch sagen? Wie soll man die Wirkung unzähliger Tonspuren, die sich auf wundersame Weise mosaikartig zu einem Gesamtbild zusammen fügen, auf den Zuhörer beschreiben. Da wären die warmen, immer halbakustisch aufgenommenen Gitarrenriffs, die cleveren Keyboardmelodien, die unaufdringlich den Gitarrenakkorden immer einen halben Takt vorauszueilen scheinen, der pluckernde Bass, das pointierte Schlagzeug. Dann der kongenial arrangierte, sich mal ergänzende mal konkurrierende Gesang von Win Butler und Régine Chassange, schließlich die poetischen Texte über die Trostlosigkeit der Gegenden, in denen man nicht weiß, ob man noch zur Stadt oder schon zum umgebenden Land gehört… Besser geht es einfach nicht!
(10 Punkte)
Diskografie von Arcade Fire:
2005 – Funeral
2007 – Neon Bible
2010 – The Suburbs