Zur Zeit ist es ja schwer, dem Thema aus dem Weg zu gehen: Ein breites Bündnis aus Bürgern, Politikern und Medien empört sich über Google Street View, fordert Verpixelungen, lange Widerspruchsfristen, Opt-In Verfahren, schärfere Gesetze und vieles mehr.
Komisch. Da geht man seit Jahren für mehr Datenschutz auf die Straße und wird dafür bestenfalls als Spinner belächelt, doch sobald Google Straßen fotografiert- Zack – ist die halbe Nation auf dem Datenschutztrip. Es wird plötzlich auf Privatsphäre verwiesen, auf Persönlichkeitsrechte, dramatische Szenarios von Einbrechern und Terroristen, die sich per Streetview vorab über ihre Ziele informieren.
Warum ausgerechnet bei Hauswänden, frage ich mich da? Warum nicht schon vorher?
Per Gesetz sind seit Jahren bereits sehr viel tiefere Einblicke in die Privatsphäre möglich, wie etwa
- in Kontodaten, sowohl für deutsche wie für US-Behörden
- in Steuerdaten per einheitlicher Steuernummer
- per ELENA in Gehaltsabrechnungen samt Fehlzeiten, Krankheitstagen etc.
- in Telefon-, Handy- und Internetverbindungsdaten per Vorratsdatenspeicherung
- in Computer per „Bundestrojaner„
- in biometrische Daten (Fingerabdruck und Gesicht) per Ausweis und Pass
- in Wohnungen per Wohnraumüberwachung
Das halte ich in Summe doch für deutlich gravierender als die Fassade von dem Haus zu knipsen, in dem ich wohne. Vor allem deshalb, weil ich bei von den Einbruchsmöglichkeiten in meine Privatsphäre nichts mitbekomme. Weder weiß ich genau, welche Daten gespeichert sind, noch wofür sie verwendet werden, noch wer wann darauf zugreift. So kann ich mich bei falschen Einträgen natürlich auch schwerlich wehren. Aber gerade weil all diese Maßnahmen still und unauffällig laufen, dringen sie kaum ins Bewusstsein der Bevölkerung. Man stelle sich vor, unsere Behörden würden jedem Bürger per Internet Einsicht in die über ihn gespeicherten Daten ermöglichen (so wie Google es mit seinem Dashboard anbietet) – wie schnell würde sich dann wohl breiter Protest regen? Ob dann der Kampf gegen den Terror, in dessen Namen viele der Maßnahmen eingeführt wurden, in einem anderen Licht erschiene?
Anders ist es aber, wen Internetriese Google Häuser fotografiert. Da posieren dann auf einmal empörte Bürger vor ihrem Haus für alle sichtbar im Internet, weil sie nicht wollen, dass sie mit ihrem Haus für alle sichtbar im Internet zu finden sind. Da sinniert der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft öffentlich über virtuelle Streifenfahrten der Polizei in Streetview und offenbart damit eines der größten Probleme der Debatte auf: Die wenigsten Protestler haben auch nur den Hauch einer Ahnung, was Streetview ist und was es kann.
Dass die Bilder nämlich nicht live sind, dass es Bilder und keine Videos sind, und dass sie alt sind. Welcher Einbrecher würde sich ernsthaft auf uralte Fotos verlassen? Würde er nicht eher lieber zu Fuß die Gegend ausbaldowern? Und um zu wissen, dass man in Blankenese größere Villen findet als in Mümmelmannsberg, braucht es kein Streetview.
Vor allem aber wird nur die Fassade geknipst, nicht das Wohnzimmer. Genau genommen auch nicht nur das Haus, sondern der ganze Straßenzug. Die Bilder werden zu einem 360° Panorama verwoben, in dem man sich umschauen kann, als wäre man vor Ort. Man kan virtuell durch die Straßen schlendern, die Gegend anschauen, vom Schreibtisch aus die Städte dieser Welt bereisen. Man kann sich anschauen, wo das Hotel liegt, das man buchen will. Wie es in der Straße aussieht, in die man ziehen will. Und es sich anders überlegen, wenn etwa jedes zweite Haus von widerspruchsfreudigen Nachbarn verpixelt ist.
In Deutschland gilt die Panoramafreiheit. Soll heißen, dass ich von öffentlichen Wegen und Plätzen alles fotografieren und veröffentlichen darf, was mir vor die Linse kommt. Google macht nichts anderes, wenn auch aus einem heckenschädlichen Blickwinkel von 2,90m. Den aber auch der Müllfahrer hat . Im Gegensatz zu mir verpixelt Google dann noch ziemlich zuverlässig Kennzeichen und Gesichter. Freiwillig. Warum sollen ich das nun dürfen, aber nicht Google?
Auch wenn Google sich in der Anfangsphase sehr ungeschickt angestellt hat, so haben sie ihr Verfahren doch offengelegt, haben Widerspruchmöglichkeiten eingeräumt und das sogar deutschlandexklusiv auf dem Postweg. Das würde ich mich bei einigen behördlichen Maßnahmen auch mal so wünschen. Besonders einseitig erscheint mir diese Thematik aber deshalb, weil Google weder das erste noch das letzte Unternehmen war, das Straßen fotografiert und WLAN-Netze scannt. Sightwalk bietet schon seit Jahren Straßenansichten etlicher deutscher Großstädte. WLAN-Scans für Lokalisierungsdienste gibt es auch schon seit Jahren. Wo war da die massenhafte Empörung von Medien, Politik und Bürgern?
Oder liegt es an Google selbst? Ist es das Misstrauen gegenüber einem Konzern, der berufsmäßig Daten seiner Nutzer sammelt und verknüpft? Der zu groß ist? Der sich das misstrauisch stimmende Motto „Don’t be Evil“ auf die Fahnen geschrieben hat? Der das Internet mit seiner Suchmaschine, die Geografie mit Google Earth, die E-Mail mit Googlemail, die Navigation mit Google-Maps, die Nachrichten mit Google News und den Browser mit Google Chrome revolutionierte? So wie auch das Leben seiner Nutzer? Ohne dafür jemals Geld zu verlangen (und damit einigen anderen Firmen kräftig ihre Geschäftsmodelle versaute)? Warum schauen Politik und Medien gerade Google so einseitig auf die Finger? Die Medien, weil Google ihnen Snippets klaut? Die Politik, weil sie sich so profilieren kann? Die Bevölkerung, weil sie auf der Empörungswelle mitreitet? Oder ist es eher Unkenntnis gepaart mit Sommerloch? Oder der Schreck darüber, das eigene Haus im Internet zu sehen? So von der Seite und nicht nur von oben? Wieso ist das Mißtrauen gegenüber Google so viel größer als gegenüber anderen Unternehmen oder dem viel tiefer schnüffelnden Staat?
Ich weiß es nicht. Aber angesichts der Tatsache, dass die Kritiker aus der Politik im Hinblick auf Datenschutz sehr viel mehr auf dem Kerbholz haben als Google haben, erscheinen die zahlreichen Forderungen nach Verpixelung, Widerspruch und Verbot als polemisch. Bezeichnenderweise ist es ausgerechnet Jürgen Drews, der die richtigen Worte findet:
Ich habe damit überhaupt kein Problem. […] Wenn einer rauskriegen will, wo ich wohne und es wirklich auf mich abgesehen hat, dann schafft er das auch ohne Google.
Ich für meine Teil freue mich bereits auf Streetview, denn es ist, und das soll man auch nicht vergessen, verdammt nützlich. Und bevor Ihr Euer Haus verpixeln lasst: Probiert es erstmal mal aus!
Herzlichst,
Euer chrjue
[Update:] Man soll’s ja nicht glauben, ausgerechnet der shz schafft es, mal etwas differenzierter zu berichten: Beschattung von oben
Sehr schöne Reflexion über Sinn und Unsinn vor allem aber die oft schwer nachvollziehbare Eigendynamik öffentlicher Debatten. Absoluter Höhepunkt ist natürlich der folgende Satz:
„Da posieren dann auf einmal empörte Bürger vor ihrem Haus für alle sichtbar im Internet, weil sie nicht wollen, dass sie mit ihrem Haus für alle sichtbar im Internet zu finden sind.“
Großartig!