Anfang 1945. Die Rote Armee rückt unaufhaltsam Richtung Westen vor. In Ostpreussen unter Gauleiter Erich Koch wird jeglicher Evakuierungsversuch in festem Glauben an den von der NS-Propaganda versprochenen Endsieg unter drakonische Strafe gestellt. Als am 26. Januar nach der Schlacht um Elbing die Rote Armee das Frische Haff erreicht, ist es zu spät. Der Landweg ist blockiert. Und so beginnt erst mit allmählichem Zusammenbrechen der Organisationsstrukturen die ungeordnete Flucht der Bevölkerung vor der Roten Armee. In Flüchtlingstrecks versuchen sie sich über das zugefrorene Frische Haff Richtung Gotenhafen oder Danzig durchzuschlagen. Der eisige Winter und die zahlreichen russischen Angriffe kosten geschätzte 300.000 der rund 2,4 Millionen Einwohner das Leben.
Ein einzelnes dieser Dramen ist auch das der Familie Kommorowski. Die Familie lebte in einem kleinen Häuschen in der Nähe des alten Ritterguts Bregden, gleich an der Eisenbahnlinie Richtung Königsberg. Dort arbeitete Vater Andreas als Bahnwärter. Mit seiner Frau Rosalie und ganzen 8 Kindern hatten sie dort ein gutes Leben und mussten laut eigenem Bekunden nie Hunger leiden. Angesichts des schon seit 6 Jahren andauernden Krieges keine Selbstverständlichkeit. Doch mit der näher kommenden Front wuchs die Angst. Um den 20. Februar 1945 herum war es dann schließlich soweit. Mit nichts als der Kleidung am Leib musste die Familie fliehen, nur der Vater und sein Sohn mussten zurückbleiben. Mit viel Geschick gelang es dem Vater immerhin, den Sohn bis Kriegsende vom Volkssturm fernzuhalten. Der älteste Sohn Heinz war bereits 1939 vor Krasnowardeisk gefallen.
Die Mutter Rosalie schlug sich mit den übrigen sechs Kindern zunächst bis zum Küstenort Rosenberg durch. Dort schlossen sie sich einem Treck an, der über das Eis des frischen Haffs auf die frische Nehrung ziehen wollte. Doch das Eis war brüchig, und immer wieder kam es zu Luftangriffen der Roten Armee – unzählige Menschen ertranken, erfroren oder wurden Opfer der Flugzeuge. Die Familie Kommorowski hatte Glück. Dem polnischen Kutscher gelang es, vom brechenden Eis weg die Mutter mit dem Wagen und einem Teil der Familie auf der Frischen Nehrung abzusetzen. Eine der größeren Töchter mit ihren jüngeren Brüdern wurde bei einem der Angriffe vom Rest der Familie getrennt, und sie mussten sich am vereisten Rand der Nehrung entlang auf eigene Faust nach Pillau durchschlagen.
Im Hafen von Pillau gabe es am nächsten Tag durch einen weiteren glücklichen Zufall zu einer Wiedervereinigung der Familie. Doch die Freude währte nur kurz, denn nun galt es, ein Schiff für die weitere Flucht aufzutreiben. Auch hier hatten sie wieder Glück. In einer der folgenden Nächte war es dann so weit. Auf einem kleinen Kutter ging es bei Nacht Richtung Gotenhafen. Es war kein Geheimnis, dass dort an der vorgelagerten Insel Hela bereits U-Boote auf der Lauer lagen. So ging es in Schleichfahrt, ohne Licht und mit Redeverbot, nach Gotenhafen. Und erneut hatte die Familie Glück. Sie kam unbeschadet an.
In Gotenhafen kamen im als Flüchtlingslager genutzten Sternkino unter. Schon wieder galt es, einen Platz auf einem der Flüchtlingsschiffe zu ergattern, die die Zivilbevölkerung nach Kräften in Sicherheit bringen sollte. Schon wieder hatten die Kommorowskis Glück. Eine Nichte von Mutter Rosalie konnte ihnen Karten für die Hamburg organisieren, die sie unter unvorstellbaren Bedingungen nach Sassnitz brachte. Allein das Ausladen in Sassnitz zog sich über Tage hin, während in der Gewässern bereits U-Boote warteten. Nach 8 Tagen gelangte schließlich auch die Familie von Bord. Der russische U-Boot Kommandant wartete ab, bis die letzten Flüchtlinge von Bord waren, bevor er die Hamburg in Sassnitz versenkte.
Ein Zug brachte die Kommorowskis schließlich fort aus Sassnitz. In Schleswig stiegen sie aus, lebten 14 Tage in einem Flüchtlingslager in der Bugenhagenschule, bevor sie im Nachbarort Schuby unterkamen. Nach Kriegsende schaffte ein Brief von ihnen es in die alte Heimat zu Vater und Sohn. Die beiden kamen nach, und die Familie war wieder vereint. Die alte Heimat war für sie verloren, aber eine neue gefunden. Eine der Töchter, die damals 17-jährige Waltraud, ist meine Großmutter, und dies ist die Geschichte ihrer Flucht.
2009. Perestroika und den Fall der Mauer haben wir hinter uns. Die Finanzkrise ist aktuell. Seit 1992 kann man als Westeuropäer das ehemalige Sperrgebiet um Heiligenbeil betreten. Nur heißt es jetzt Mamonovo. Mit der Omma im Schlepptau geht es Bus nach Königsberg (jetzt Kaliningrad). Einen Tag nehmen wir uns frei von Stadt- und sonstigen Rundfahrten und machen uns auf Spurensuche in der alten Heimat. Um es kurz zu machen: Die Gegend hat sich ziemlich verändert. Im Krieg sind viele Gebäude den Gefechten, nach dem Krieg der Umgestaltung durch die neuen Einwohner zum Opfer gefallen. Doch einige Gebäude stehen noch, und einige alte Wege sind befahrbar. So finden wir schließlich auch das alte Gut wieder. Von den Gebäuden ist fast nichts mehr übrig, aber die Überreste werden vom neuen Besitzer liebevoll gepflegt und nach Möglichkeit wieder aufgebaut. Mit alten Landkarten und aus Gesprächen versucht er, die Geschichte des Gutes und seiner Einwohner zu rekonstruieren, was man ohne Übertreibung als Sysiphusarbeit bezeichnen kann.
Aber er kennt sein Grundstück, und so ist es für ihn kein größeres Problem, uns durch das Gestrüpp des einstigen Parks hin zu den Überresten des Hauses der Familie Kommorowski zu führen. Unscheinbar ist die Ruine in der Böschung an der Bahnlinie versteckt. Viel übrig ist nicht, aber das Kellerloch ist deutlich zu erkennen. Rote Backsteine liegen herum, zusammen mit alten Knochen, Überresten von Geschirr und verrosteteten Bratpfannen. Ein paar Bruchstücke dürfen wir als Souvenir mitnehmen, die wir in der Heimat, die sich von hier aus unglaublich weit weg anfühlt, etwas zum Anfassen haben. Etwas, das uns daran erinnert, dass das hier kein Traum ist, und das all das wirklich geschehen ist.
Euer chrjue
P.S.: Mehr Bilder bei Flickr
Märchen und historische Wahrheit
Zunächst zum Märchen: Der russische U-Boot-Kommandant wartete ab, bis die letzten Flüchtlinge von Bord waren“…
Wirklichkeit: In der Nacht vom 06./07.03.1945 griffen etwa 200
Lancaster-Bomber der Briten die auf Sassnitz Reede liegenden, zahlreichen, auch großen Handelsschiffe – Flüchtlingsschiffe mit Verwundeten – und Kriegschiffe an, versenkten einzelne kleine Kriegsmarineeinheiten und warfen Magnetminen über dem Seegebiet ab. Zur Zeit des Angriffs waren Flüchtlinge aller Schiffe von Bord
Bei dem Versuch des Ankerwechsels der MS „Hamburg“ am Nachmittag des 07.03.45 – kam es zum Kontakt mit einer Magnetmine, so dass die Hamburg in kürzester
Zeit sank. Nur noch die Reeling und die beiden Schornsteine
waren über der Wasseroberfläche sichtbar. Von der Besatzung kam niemand zu Schaden, wir als ganz junge Marineangehörige verließen nach Tagen den Ort des Grauens per Zug gemeinsam mit der Besatzung Richtung Kiel.
Kommentar: Die MS „Hamburg“ hatte eine Größenordnung von rund 22000 BRT. Sie konnte nicht im Hafen selbst festmachen, da der Tiefgang das nicht zuließ. Nur das deutlich kleinere Lazarettschiff brannte an der Kaje mit Verwundeten lichterloh.
Viele Güterwagen, vollgestopft mit Flüchtlingen, waren zerstört und die Menschen getötet. Zu dieser Zeit hatte der Krieg nur unmenschliche Züge. Das Wort „Erbarmung“ war unbekannt. Auch rein theoretisch hätte der U-Boot-Kommandant wegen des Flachwassers auf Sassnitz Reede nicht handeln können. Aber zu damaliger Zeit hätte er auch nicht auf das Ausbooten der geschlagenen Menschen gewartet. Das
zeigen zahlreiche Torpedierungen großer Handelsschiffe mit Flüchtlingen und Verwundeten, wobei die „Wilhelm Gustloff“ nur ein Beispiel ist.
Die MS „Hamburg“ wurde durch die Russen gehoben, repariert und fuhr noch weiter im Ostseebereich unter sowjetischer Flagge.
Mit freundlichen Grüßen
Eberhard Scharffetter
Hallo, mich hat der Artikel sehr interessiert, da ich selbst als Junge, 13 Jahre alt, zu der Zeit von Königsberg über Pillau nach Gotenhafen und von dort nach Saßnitz geflüchtet bin.
Den Luftangriff auf Saßnitz kann ich bestätigen, denn ich war da auf der „MS Deutschland“ , die bei ca. 8 Meter Tiefgang auch nicht in den Hafen hinein konnte und deshalb ausserhalb vor der Mole lag. Wir sind dann erst am 12.März ? in Schüben mit je etwa 50 Personen entladen worden. Auch habe ich gesehen, wie die “ MS Hamburg “ unterging.
Alles ein trauriges Kapitel.
Mit freuindlichem Gruß H. Dahms
Lieber H. Dahms,
kommt Ihre Familie evtl. aus Tilsit? Mein Vater *1921 stammt daher und hatte einen Schulfreund mit gleichem Nachnamen wie Sie. Dieser hat nach dem Krieg in Bad Hersfeld gelebt.
Freundliche Grüße
U. Weber
Auch mein Vater war als sog. Marinehelfer 16-jährig auf dem Schiff. Er berichtete heute, dass diese Helfer nach dem Ausbooten der Verwundeten, das nach seiner Erinnerung sogar 14 Tage in Anspruch nahm, auf Rügen nahe Sassnitz in einer Einrichtung namens SAS, einer Atellerieschule, einquartiert wurden, bevor sie weiter mussten. Er hat vor einigen Jahren versucht, diesen Ort zu finden. Wissen Sie, wo das ist, ob es das Gebäude noch gibt ?
Ute Boikat aus Bremen
30.05.2012
Sehr geehrte Frau Boikat,
erst heute habe ich Ihre Zeilen gelesen. In meinen Erinnerungen habe ich die Unterkunft der Marinehelfer bei Sassnitz mit Frontleitstelle bezeichnet. Wir hatten ja ganz allgemein keine genauen örtlichen Detailkenntnisse, so dass es heute schwer sein dürfte, den genauen Ort zu bestimmen, wenn er denn
überhaupt noch existiert.
Mit freundlichen Grüßen
E. Sch.
Ich bin 1954 geboren. Meine Mutter und ihre Familie sind von Ostpreussen geflohen und viele meiner Verwandten sind mit der Gustloff oder der Steuben in die Tiefe verschwunden. Ich habe mich immer als ein Ostpreusser gefuelt und betrachtet – bin nie dort gewesen aber habe mich immer dorthin gesehnt! Ich wehre mich doch: In Darkhemen,Pillau und Königsberg wird mir keine Preussische Fata Morgana entgegenkommen, sondern eine allzu seelenlose sozialrealistische Wirklichkeit….. Die Grossmutter meiner Grossmutter war der Urenkel der Preussischen Königin Luise! Sowieso bin ich immer ein echter Preusser und immer noch stolz darueber!
Mir geht es irgendwie genauso. Mein Vater kommt aus Pommern, meine Mutter aus Ostpreussen. Ich war mit meinem Vater vor einigen Jahren in Pommern und hatte ein fast schon unerklärliches Gefühl der Heimatverbundenheit. So viele deutsche Spuren sind noch zu sehen: deutsche Inschriften auf Taufsteinen, umgeworfenen Grabsteinen und Kanaldeckeln. Mein Vater kannte noch fast jeden Stein, obwohl er vor über 60 Jahren vertrieben worden war.